Ices - Silent Sisters

von Enchanting







ICE - SILENT SISTERS




Prolog: Dîn Muinthel

Ein Wort beschreibt die Schwestern, die identisch wirken, es aber abstreiten, Zwillinge zu sein: still. Nie öffnen sie ihren Mund, um eine Unterhaltung zu beginnen, sie meiden das Sprechen wie der Teufel das Weihwasser. Allgemein setzen sie selten zu einer Bewegung an. Meist sitzen sie nur ruhig in ihren gleich wirkenden Stühlen, immer im gleichen Abstand zu einander, ihr Rücken gerade, der Köpf in der Höhe; die übliche Haltung, die Stolz verbirgt.
Über ihre Beliebtheit kann man einiges aussagen. Die Jungen sind an den Schwestern durchaus interessiert, da sie so viele Fragen aufwerfen, so viele Geheimnisse sie umgeben, so geheimnissvoll sind. Es existieren Wetten, wer zuerst ihren kalten Atem auf seiner Haut verspüren darf – ja, die Kälte, die sie umgibt, ist unter allen bekannt und hat ihnen auch den Spitznamen 'Ices' beschert -, wer zuerst die Worte 'Ich liebe dich' ins Ohr gehaucht kriegt. Ja, die männlichen Wesen bringen für die Schwestern viel Liebe auf. So könnte man es nennen – wenn man davon ausgeht, dass diese Machos, die man auch Jungen nennt, so ein Gefühl verspüren können. Aber dass jeder einzelne von ihnen sie anhimmelt steht fest, dass jeder für sie Gefühle empfindet ist ebenfalls klar, es kann sie nur niemand so genau definieren.
Aber das gilt nicht für die Mädchen, sie verabscheuen die Silent Sisters, da sie wegen ihnen ihre Freunde verloren haben, weil sie wegen ihnen keine Chance mehr haben, ihren Schwarm für sich zu gewinnen. Obwohl den Schwestern keine Schuld angehängt werden dürfte, da sie das Verhalten der Jungen nicht bestimmen und vor allem nicht lenken konnten, machen alle Mädchen sie, sobald sich eine Gelegenheit ergibt, fertig. Sie demütigen sie vor Lehrern, Schülern und Eltern – und wollen dabei nicht begreifen, dass die Beschimpfungen förmlich an den Ices abprallen, dass den Beiden die Gemeinheiten egal ist. Es gibt nur eine, die gleiche Rechte haben will, ihr einziger Wunsch ist, dass die Silent Sisters nicht mehr so behandelt werden, nicht mehr so mies beschimpft werden. Doch sie verbirgt ihre Gefühle den Schwestern gegenüber, da sie Angst hat. Sie fürchtet sich davor, das Mobbing ebenfalls über sich ergehen lassen zu müssen, ebenfalls ein Außenseiter zu sein, wenn sie sich auf die Seite der Ices stellt. So gelingt ihr es nicht, sich durch zu setzen, ihre Stimme einmal gegen die Mädchen, die nur Hass für die Schwestern übrig haben, zu erheben, sich dagegen zu lehnen, aber ganz tief in ihrem Herzen sieht es anders aus.
Sicher wollt ihr jetzt deren Namen erfahren und eure Erwartung soll erfüllt werden: ihre Eltern gaben ihr den Namen Naomi.
Doch die Wünsche der Mädchen blieben unerfüllt, ebenso die der Jungen, genauso die Naomis. Durch die Art der Ices eroberten sie jeden Tag mehr Herzen, die gebrochen wurden, da sie kein Interesse für ein anderes Wesen als sich selbst aufbringen konnten. Es geschah nichts, keine Veränderung fand statt. Die Klassengemeinschaft war weiterhin etwas gestört, da sie sich in zwei Gruppen gespalten hatten, es kehrte keine Ruhe ein – und das, obwohl überhaupt NICHTS passierte. Es war eben so, wie es immer gewesen war ...


1. Kapitel: Melda?



Naomi atmete tief ein. Dieses Vorhaben ist absurd! Ständig kamen diese Zweifel auf, gegen die sie ankämpfen musste. Wenn sie den Schritt nicht gleich machen würde, wäre es zu spät. Jetzt komm schon, es ist nur EINE Frage, trieb sie sich an. Aber es ist nicht irgendeine Frage, die ich ihnen stellen muss, sondern DIESE, protestierte sie der ersten Stimme in ihrem Kopf und hielt sie somit davon ab, den Raum zu betreten. Es entstand ein kleiner Kampf. Während die zwei Meinung versuchte, einander zu besiegen, haderte Naomi noch mit sich selbst. Ihre zitternde Hand, die das kalte Messing der Türklinke umgriff, stellte die Bewegung ein, die sie angedeutet hatte. Erschöpft, weil sie es nicht schaffte, eine Entscheidung zu treffen und somit ein gewaltiges Problem zu lösen, lehnte sie sich gegen die Wand.
Naomi verharrte minutenlang in dieser Position, es dauerte noch seine Zeit, bis sie den Mut, den sie benötigte, um einen Fuß in das Klassenzimmer zu setzen, endlich fassen konnte. Sie schloss die Augen, die Lider senkten sich. Schweiß trat auf ihre Stirn. Sie wusste nicht wirklich, was geschah und wie es passierte, aber von einem Moment auf den anderen stand sie in ihrem Klassenzimmer. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, aber das war keine Überraschung, dies geschah immer, wenn jemand den Raum betrat. Doch lange dauerte es nicht, bis das Erstaunen über das alltägliche Ereignis verflogen war und sich alle wieder dem Lehrer widmeten, der frühzeitig erschienen war. Naomi murmelte ein kurzes „Entschuldigung“, dass eigentlich gar nicht nötig war, da sie nicht zu spät, sondern der Lehrer zu früh da gewesen war, bevor sie zu ihrem Platz schritt. Dann hat sich das sowieso vorerst erledigt, schoss es ihr durch den Kopf. Vor ihr saßen die Ices, die einmal wieder Körpersprache verwendeten, um eine Frage des Lehrers zu 'organisatorischen Dingen', wie er es nannte, beantworten. Typisch, dachte sie sich. Doch es trat bei niemandem mehr Verwunderung auf, wenn die Silent Sisters kein Wort von sich gaben, mittlerweile waren sie die Schweigsamkeit der Ices gewohnt. Naomi stieß ein Gähnen aus, ihre Lider senkten sich über die Pupillen. Durch den Ellbogen, der in ihre Rippen gepresst wurde, wachte sie wieder auf. Wie lange bin ich dem Unterricht nicht gefolgt?, fragte sie sich und bedankte sich bei ihrer Banknachbarin, die ihr einen verwunderten Blick zuwarf. Bevor Naomi sich der Uhr zu wandte, verriet ihr die Schulglocke, welche Uhrzeit es war. Du hast ganz schön lange geschlafen, ohne dass es irgendjemand gemerkt hat.
So verlief der ganze Tag, bis ihre Geschichtslehrerin das Ende des Tages ankündigte. Doch die Klasse hatte am Nachmittag noch Unterricht, dazwischen allerdings eine Pause, die eine Stunde andauerte. Zeit, um die Ices anzusprechen. Komm schon, nicht zögern ... Das tat sie auch nicht, sie marschierte aufrecht zu den Silent Sisters, bevor ihr auch nur ein Zweifel kommen könnte. „Hey“, begrüßte sie die zwei, die bewegungslos vor ihr standen und bemerkte, wie heiser ihre Stimme war. Woran das lag, wusste sie allerdings nicht. Sie wurde durch eine kaum merkbare Bewegung, die sie allerdings gesichtet hatte, aus ihren Gedanken gerissen. Eine der Schwestern hatte ihre Hand gehoben, das war ihr Gruß. Etwas unpersönlich, doch das waren sie insgesamt auch. „Können wir reden?“, fragte Naomi nun, um die herrschende Stille zu durchbrechen und erhielt ein stummes Nicken als Antwort, in den Augen der Ices lag Verwunderung. Erstaunen darüber, dass sie so angesprochen wurden; auch darüber, dass man überhaupt noch mit ihnen redete „Wollen wir … Freunde werden?“ Oh nein! Wie klingt das nur? Oh Gott, das ist lächerlich! Wie wohl ihre Reaktion ausfallen wird?! Naomi senkte ihren Kopf, um zu verhindern, dass die Silent Sisters die ansteigende Röte in ihrem Gesicht bemerken würden. Doch als einer der Ices ihre kalten Hände auf ihre Schulter legte, um die kurz fehlende Aufmerksamkeit Naomis zu erregen, während die Zweite ihre Antwort auf ein Blatt Papier notierte, baute sie sich wieder zu ihrer vollen Größe auf. Die Schwestern setzten sich nun in Bewegung, fixierten die Tür an und hinterließen Naomi in dem Klassenzimmer, nachdem sie sich davon vergewissert hatten, dass Naomi ihren Zettel las. Naomi war aufgeregt, das erschwerte ihr es noch mehr, die schwer lesbare Schrift der Ices zu entziffern. Immer wieder ging sie ihren Gedanken nach, da es so schwer war, ja, nahezu unmöglich zu sein schien, die Antwort der Beiden zu erfahren. Als die Lehrerin sich räusperte und meinte: "Naomi, bitte beeile dich, ich möchte auch in die Pause", gelang es ihr die Konzentration zurück zu erlangen. Sie beschloss, einen letzten Versuch zu starten, ignorierte das Drängen der Lehrerin einfach. Endlich gelang es ihr, das Wort, dass auf dem Zettel vorzufinden war, lesen zu können. 'Nein'. Was? Bist du dir sicher, dass du dich nicht verlesen hast? Naomi überprüfte es noch einmal. Tatsächlich, auf dem Zettel stand 'Nein.' Wieso machen sie so was? Wieso sagen sie nein? Warum auf diese Art? Warum nicht 'Nein, tut mir Leid? So viele Fragen, aber keine Antwort in Sicht. Stell sie einfach zur Rede, alles wird sich ergeben, munterte sie sich auf und wich dem strengen, bitterbösen Blick der Lehrerin aus, indem sie sie einfach ignorierte. Statt sich nun weiterhin den Ices und ihrer Antwort zu widmen, lief sie los, um ihre Pause nicht vollständig zu versäumen.